Wann war wohl das letzte Mal, dass kleine Tiere so schnell so viel Einfluss auf das Leben der Menschen hatten? Komischerweise fallen mir als erstes Ratten und Flöhe als Überträger der Pest im Mittelalter ein. Doch das aktuelle Phänomen handelt ja ganz im Gegenteil unter anderem auch von Gesundheit, Bewegung und Lebensfreude: Pokémon Go ist in aller Munde – eher noch in aller Hände. Denn nahezu überall sieht man Menschen gerade mit dem Smartphone in der Hand die kleinen Kultmonster aus den Neunzigern jagen – nur diesmal eben auf dem neusten Stand der Technik. Zeit, den Hype mal live mitzuerleben. Was macht die Faszination aus? Wo führt die neue Interaktion im öffentlichen Raum hin? Und vor allem: Wie kann ich mein Fluffeluff weiterentwickeln? Ich treffe mich mit fünf Leipzigern, die dem Hype verfallen sind, unter anderem schon eine eigene WhatsApp-Gruppe zum Thema gegründet haben und teils gemeinsam auf die digitale Monsterjagd gehen. „Nintendo spricht die Zielgruppe von früher an, die Pokémon damals schon gut fand“, erklärt Nadja Enke (26) die Begeisterung. „Es wird der alte Jäger-Sammler-Trieb geweckt“, ergänzt Moritz Peters (30).
Pokémon Go: Digital martialisch – im echten Leben sozial
Die halb reale, halb virtuelle Jagd sieht dann grob so aus: Die Spieler ziehen mit ihrem Smartphone und App los. Auf einer virtuellen Umgebungskarte werden die kleinen Biester mit den kuriosen Namen eingeblendet, der Spieler wirft einen Ball und – Zack! Bunte Blitze! – hat im Idealfall eins gefangen. Ghostbusters meets Völkerball. Die Pokémon können sich dann noch entwickeln und in Arenen gegeneinander antreten. Der martialisch anmutende Grundtenor im Digitalen – einfangen, kämpfen – wird in der realen Welt ins soziale Gegenteil verkehrt: Man trifft Freunde und Fremde und kommt ins Gespräch.
Die 30-jährige Juliane W. berichtet: „Ich hab mal versucht, ein Shiggy zu fangen und musste fluchen, als es nicht geklappt hat. Ein Pärchen, das gerade dabei stand, musste auch lachen und die Frau hat gesagt ‚Ich steh auch gerade davor‘.“ Das Augmented-Reality-Spiel konterkariert das Klischee vom nur vor dem Bildschirm sitzenden und sozialgestörten Gaming-Freak. „So schnell in das soziale Leben einzudringen, hat noch keine App geschafft“, erklärt Nadja, selbst etwas verwundert.
Wir gehen eine Allee im Leipziger Clara-Zetkin-Park entlang. Ein älteres Paar schaut leicht verdutzt auf die Gruppe, die mit den Gesichtern ihre Smartphones taxiert und ausschwärmt. „Anne?“ Schon sind die ersten in der Gruppe verloren gegangen. „Ah jetzt, ein Rattfratz!“ Eine Joggerin rennt keuchend vorbei. An einem kleinen See mit Springbrunnen stehen bereits mehrere Spieler. „Wer von euch coolen Leuten hat denn das Lockmodul ausgelegt?“, fragt Moritz in die Runde. Denn mit diesem Gimmick kann man die Monsterchen anlocken – auch für Firmen eine interessante Marketingoption. „Hat’s irgendjemand gefangen?“ „Ich hab’s.“ „Glückwunsch.“ Kurze soziale Interaktion, dann wieder Tunnelblick und Herdentrieb. Eine Bekannte fährt auf dem Rad vorbei und ruft wohlwissend „viel Glück!“ Ein Mann schiebt einen Kinderwagen und schaut nebenbei auch konzentriert aufs Smartphone. Spielt der auch? So langsam wird jeder verdächtig, Mitglied einer großen öffentlichen Verschwörung zu sein. Weiter laufen. Wieder wer verschwunden. „Naaaaaaaaaaaaaaadja!“
„Ich bin gespannt auf die ersten Beziehungen, die dadurch zu Stande kommen“
Auch Anne Lewitzki (28) hat einen flotten Schritt – dabei wird sie bald zweifache Mutter. Nur virtuell allerdings. Sie hat Pokémon-Eier und je mehr sie läuft, desto eher werden sie ausgebrütet. Auf dem Handydisplay steht: 4,6 von 5 Kilometern hat sie schon, danach schlüpft das digitale Baby. Apropos Baby: „Ich bin gespannt auf die ersten Beziehungen, die dadurch zu Stande kommen, ich könnte mir das gut vorstellen“, prognostiziert Moritz die Zukunft der App als möglichen Tinder-Ersatz. Anne widerspricht: „Naja, man hockt zusammen und redet kurz. Mehr aber auch nicht.“ Auf jeden Fall gibt es mehr Bewegung im öffentlichen Raum und mehr Möglichkeiten zur Kommunikation, ein bisschen Workout mit Flirtfaktor. Plus lokales Allgemeinwissentraining. „Man lernt bei der Suche auch die Stadt neu kennen – wusstet ihr, dass es in Leipzig Untergrundmessehallen gab?“, erzählt Nadja. Hat das Spiel einen Suchtfaktor? „Klaaaaaar“, kommt die Antwort lachend und im Chor. Hoppla, fast in eine Pfütze getreten. Ein Mann mit schwarzem Hund läuft vorbei. Der Vierbeiner würde wohl ausrasten, wenn er sehen würde was hier so alles lauert. „Hier muss irgendwo noch ’n Quapsel rumstrolchen“, bemerkt Moritz. Klingt ein bisschen wie Standup-Comedy, Sätze wie dieser dürften aber wohl immer mehr in den alltäglichen Sprachgebrauch einziehen. Die Namen der ganzen Pokémon – Rattikarl, Pummeluff, Kleinstein und Co – sind sowieso eine wahre Quelle der Freude. „Ich laufe noch Mal, mir fehlen noch 30 Meter“, kündigt Anne die baldige Schlüpfung ihrer Eier an. Da entdecke ich den Kinderwagen-Mann von vorhin wieder und frage, ob er auch dem Pokémon-Hype verfallen ist. „Neee, aber anderes Spiel“, entgegnet er lachend. Trotzdem findet Moritz passende Worte zum Trend, der viele mitreißt, die Mehrheit aber wohl noch mehr oder weniger kalt lässt. „Es ist auf jeden Fall schön zu sehen, dass man nicht der einzige Depp in der Stadt ist.“
2 Antworten zu “Kleine Monster, große Wirkung – was Pokémon Go mit den Menschen macht.”
[…] rund 3.000 Filialen virtuell so genannte Pokéstops oder Arenen anbieten. In diesen können die Spieler der Hype-App entweder Gegenstände kaufen oder ihre gesammelten digitalen Monster gegeneinander kämpfen lassen. […]
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