Vom Stamm der Dītóuzú – Smartphones und Apps in Taiwan.

So nutzen Menschen am anderen Ende der Welt ihre Smartphones: Deike Lautenschläger ist Autorin des Fettnäpfchenführer Taiwan: Wo Götter kuppeln und Ärzte gebrochene Herzen heilen und fand vor zwölf Jahren in Taipeh ihre neue Wahlheimat. Für uns schildert sie, wieso Apps dort bei der Müllabfuhr eine wichtige Rolle spielen und wie eine Kassenbonlotterie-App dem Staat hilft, Steuerhinterziehung einzudämmen. Zudem verrät sie, wie der U-Bahn-Betreiber in Taipeh gegen all zu übertriebene Smartphone-Nutzung vorgeht.

Von Deike Lautenschläger

Dītóuzú ist die in Taiwan etablierte Bezeichnung für eine hier besonders oft auftretende Merkmalsvariante des Homo sapiens, nämlich für Exemplare eines Stammes, deren Mitglieder den Kopf nach unten halten und gebannt auf ihr Smartphone sehen, sowie durch eine kaum bis gar keine feststellbare Anteilnahme an der Welt um sich herum charakterisiert sind: 低 dī unten oder tief, 頭 tóu Kopf, 族 zú Stamm, Gruppe von Menschen – so nennt man sie auf Hochchinesisch.

Smartphone immer und überall

Selbst auf der Toilette, zur Stoßzeit im Verkehr auf dem Moped, beim Beten im Tempel oder bei der Blutabnahme im Krankenhaus legen sie das Smartphone nicht bei Seite. Steigt man in die Metro ein, haben neun von zehn Pendlern das Smartphone – manchmal gar auch in voller Lautstärke – vor der Nase.

Betritt man Restaurants, kann man Paare nicht beim Händchenhalten oder Turteln, sondern wortlos beim eifrigen Streichen über das kleine leuchtende Viereck beobachten. Sollten sie wirklich mal aufsehen, dann wahrscheinlich nur, um mit dem Smartphone das servierte Essen zu fotografieren oder ein Selfie mit weit geöffneten Augen und Schmollmund zu machen und dann auf Facebook oder Instagram zu „PO圖” – Bilder zu POsten.

Per App zum richtigen Bus

Aber was macht so ein Dītóuzú den lieben langen Tag auf seinem Smartphone? Lässt man sich einmal die Apps – oder A-P- P (eh pie pie) – wie sie hier genannt werden, zeigen, dann wird man schnell mehr über die taiwanische Kultur und den Alltag in Taiwan verstehen:

In Taiwan ist das Wetter immer schlecht – fragt man die Taiwaner. Außer an ein paar wenigen Tagen im Frühling und Herbst, scheint es ihnen meist unerträglich. Selbst wenn die meisten Buslinien hier im 5-bis-12-Minuten-Takt verkehren, wer steht schon gern im Geschäftsanzug oder Kostüm bei 37 Grad im Schatten oder im strömenden Regen an der Bushaltestelle und wartet selbst auch nur drei Minuten auf den Bus. Muss man auch nicht, wenn man die App 台北等 公車 hat – auf Deutsch: Taipeh wartet auf den Bus.

Man sucht nach der Busnummer, der Bushaltestelle und schon kann man in Echtzeit die Abfahrtszeiten der Busse auf dem Bildschirm mitverfolgen und herausfinden, an welcher Bushaltestelle der nächste Bus einfährt. Wenn man nun weiß, wie viel Zeit man vom Frühstücks- oder Büroschreibtisch bis zur Haltestelle braucht, kann man auf die Sekunde genau den Bus abpassen und quasi ohne innezuhalten direkt in das von Klimaanlagen gekühlte Gefährt einsteigen. Taiwaner arbeiten viel, denn viele träumen vom großen Geld – wie gut, dass ihnen so die Pendelzeit verkürzt wird.

Kassenbonlotterie per App

Apropos Geld, sehr beliebte Apps sind auch die 統一發票對獎 – die Kassenbonlotterie-Apps, damit kann man den QR-Code seines Kassenbons, den man bei jedem noch so kleinen Einkauf bekommt, einscannen. Jeder dieser unscheinbaren Kassenbons könnte ein Ticket für einen Millionengewinn sein, denn darauf ist eine achtstellige Losnummer aufgedruckt, die mit dem QR-Code über die Kassenbonlotterie-App in das Handy eingelesen wird.

Mit dieser Lotterie setzt die Regierung durch, dass alle Verkäufe versteuert werden, indem die Bürger beim Einkauf auf den Kassenbon bestehen. Am 25. jedes zweiten Monats werden vom Finanzministerium die Gewinnzahlen gezogen. Statt nun in mühevoller Handarbeit alle Kassenbons, die sich über zwei Monate angesammelt haben, durchzusehen, erledigt das die App, die ja nun alle Zahlen via QR-Codes eingespeichert hat, in Sekundenschnelle von ganz allein. Stimmen die letzten drei Zahlen der Kassenbonnummer überein, hat man 200 Taiwan-Dollar, etwa 5 Euro, gewonnen, stimmen die letzten vier Zahlen überein, sind es schon 1.000 Taiwan-Dollar, also etwa 25 Euro, und so weiter.

App-genaue Müllabfuhr

Schade! Nicht gewonnen? Dann weg mit den unzähligen Kassenbons in den Müll. Doch so einfach ist das nicht. Dazu muss man erst einmal einen öffentlichen Papierkorb finden oder mit dem vollen Müllsack auf das Müllauto warten. Die Müllabfuhr kommt in Taiwan nicht zu jedem Haus, sondern hält irgendwann irgendwo in der Nachbarschaft für ein paar Minuten an.

Wenn man nicht von der Melodie „Für Elise“ von Beethoven überrascht werden will – denn so gibt sich das Müllauto zu erkennen, sucht man nach dem genauen Wo und Wann mit der App: 台北倒垃圾 – auf Deutsch: Taipeh kippt den Müll weg. Die Müllgebühr ist übrigens mit dem Kauf der korrekten Müllsäcke abgegolten. Für jedes Wehwehchen gibt es ein Pflaster, für jede Unannehmlichkeit des Lebens eine App. Wie auch die folgende:

App als Mülleimer-Scout

Weil sich in der Vergangenheit so mancher Taiwaner die Müllsackgebühr und den Sprint zum Müllauto sparen wollte und seinen Abfall daher einfach in die öffentlichen Papierkörbe geworfen hat, versucht die Regierung nun, dieses Unterfangen so schwer wie möglich zu machen. Wie? Indem sie einfach sehr wenige öffentliche Papierkörbe aufstellt.

Ist man aber in Taipeh als Fußgänger unterwegs und will ganz rechtens seine ausgetrunkene Colaflasche oder ein Bonbonpapier wegwerfen, kann man lange suchen … hat man nicht die App: 台北丟垃圾 (幫你找附近的垃圾桶) – auf Deutsch: Taipeh wirft den Müll weg (Wir helfen dir in der Nähe einen Papierkorb zu finden). Sie zeigt einem den Weg zu den wenigen öffentlichen Papierkörben in der Nähe. Auf diesem Weg sollte man dann aber auch vorsichtig sein, denn auf Taipehs Fußwegen wimmelt es nur so von Radfahrern.

Drahtesel per App ordern

Seit einigen Jahren gibt es neben der sauberen, schnellen und zuverlässigen Metro, den vielen Bussen und erschwinglichen Taxis in Taipeh auch das YouBike, ein Bike-Sharing-System. Mit einer Chipkarte, die man für alle Massenverkehrsmittel benutzen kann, leiht man sich an einer der vielen YouBike-Stationen ein Fahrrad aus und ist auf unzähligen Radwegen innerhalb der Stadt unterwegs.

In einer Metropole wie Taipeh ist es aber manchmal gar nicht so leicht bei tausenden von begeisterten Radfahrern oder eiligen Gelegenheitsradlern, einen freien Drahtesel oder eine freie Abstellhalterung zu ergattern. Wie gut, dass es dafür Apps wie z.B. Bikerker (YouBike/UBike微笑單車查詢) gibt. Sie informiert außerdem über die zum Standort am nächsten liegenden YouBike-Stationen, hält einen über die eigene Fahrzeit und das Kartenguthaben auf dem Laufenden, verfügt über einen Offline-Stadtplan und zeigt die neusten YouBike Nachrichten an.

Filme und Serien mobil streamen

Sollte es einem doch zu heiß oder zu anstrengend sein, sich zwischen den Fußgängern hindurchzuschlängeln, und man fährt mit der Metro, so wird man seinen Augen nicht trauen: im Laufen, Sitzen, Stehen, Lehnen, mit Einkaufstaschen beladen oder Kind im Arm, während des Aus- und Einsteigens hält Jung und Alt das Smartphone vor sich.

Was machen sie damit nur? Blicke über die Schulter verraten – ganz einfach – Serien schauen. Ohne Ton? Macht nichts, in Taiwan ist alles untertitelt. Mit der App QIANXUN MOVIES & TV (千尋影視) kann man fast jede Fernsehshow ansehen, darunter taiwanesische, koreanische und japanische Seifenopern, alle Arten von Filmen aus ganz Asien und japanische Anime. Ist die Metrofahrt zu kurz für eine Folge? Auch nicht schlimm, denn die App merkt sich, wo man in einem bestimmten Film zu sehen aufgehört hat.

Das Leben ist ein Spiel

Wer keine Serien schaut, der stapelt schnell mal zwischen zwei Metro-Stationen, in der Mittagspause, auf dem Moped in der Rotphase oder in der Warteschlange am Aufzug ins Büro z. B. Edelsteine und Bonbons in Tetris artigen Spielen aufeinander. In Fantasiewelten wird mit Sagengestalten nach Schätzen gegraben, werden Zaubertränke erfunden, Schwerter und Rüstungen erkämpft, die man dann eintauscht oder weiterverkauft. Schafe werden geschoren, Schweine gezüchtet, Pferde gefangen, Drachen vernichtet, Raumschiffe geflogen und was weiß man nicht alles und das nicht allein – jeden Tag und jede Nacht sind zehntausende Spieler in Taiwan auf dem Smartphone und auch auf dem PC online.

Sollte man ein Leben verlieren, kann man sich ein neues kaufen, vielleicht mit dem Schatz, den man noch im „letzten Leben“ gefunden hat, denn das Geld und die Schätze liegen ja sicher verwahrt in der App GASH – 遊戲點數、免費點數、遊戲虛寶, sozusagen eine Online-Bank, in der GASH POINTs, die Spiel-Währung angelegt wird.

„Ich will aussteigen“

Seit einiger Zeit hat die Metro nun auch die Anzeigen zum höflichen und rücksichtsvollen Benehmen geändert. Wo einst noch auf den Plakaten gezeigt wurde, dass man die Zeitung nicht in voller Breite aufschlagen und so Mitreisende nicht in Bedrängnis bringen soll, dort sieht man nun ein kleines Männchen umringt von lauter Dītóuzú stehen, das jammert: „Ich will aussteigen“, weil es einfach nicht zur Tür kommt.

Pokémon Go

Aber eine App hat etwas ganz besonderes mit den Taiwanern angestellt: Man kann sie jetzt ziemlich oft im Park antreffen, und das selbst im heißen Sommer, zur Regenzeit, ja sogar im Geistermonat, in dem sich die Seelen der Unterwelt vorzugsweise in Parks ein Stelldichein geben und die Einheimischen deshalb den Park nach Einbruch der Dunkelheit meiden.

Die App Pokémon Go lockt die Pokémonjäger nach draußen. In Grüppchen stehen sie auf Parkwegen unter Bäumen beisammen, ohne Notiz von einander zu nehmen. Sie schauen mit angestrengtem Blick auf das Display, ihre Wangen glühen vor Aufregung und in ihren Brillengläsern spiegelt sich die Karte der Umgebung mit dem Pokéball in der Mitte. Wenn sich früher die Mütter und Frauen beschwerten und meinten: „Lass das Computerspielen und geh mal raus!“, so werden sie heute wohl sagen müssen: „Lass das Computerspielen und komm mal rein!“ … wenn sie nicht gar selbst unter die Pokémon jagenden Dītóuzú gegangen sind.

Über die Autorin

Deike Lautenschläger ist Autorin des Fettnäpfchenführer Taiwan: Wo Götter kuppeln und Ärzte gebrochene Herzen heilen. Sie wurde 1977 in Grimma geboren. Sie studierte Medien an der Bauhaus-Universität in Weimar und am Art Institute of Pittsburgh und war danach fünf Jahre als TV-Journalistin in Leipzig für öffentlich-rechtliche und private Sender tätig. Anfang 2005 ging sie nach Taiwan, mit der Absicht, für ein Jahr Chinesisch zu lernen, blieb dann aber für ein Masterstudium der Internationalen Kommunikation mit Schwerpunkt Asien an der National Chengchi University. Nach mehr als zwölf Jahren in Asien, u. a. als Praktikantin in Singapur und Hongkong und als Deutschlehrkraft am Goethe-Institut in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi, ist Taiwan ihre Wahlheimat geworden. Jetzt lebt sie als freie Autorin, Deutschlehrerin und Doktorandin (Asian Pacific Studies) in Taipeh, wo sie noch heute bei schweren Entscheidungen die Götter im Tempel nebenan um Rat fragt und sich in jeder freien Minute vom Meer den Sand zwischen die Zehen spülen lässt.

Diesen Artikel teilen

Kommentare sind geschlossen.

Mobilbranche.de Newsletter

Hiermit akzeptiere ich die Datenschutzbestimmungen.