Schluss mit dem Digitalisierungs-Desaster!

Von Amir Karimi

Orientierungslosigkeit. Das ist der erste Begriff, der mir in den Sinn kommt, wenn ich an den Digitalisierungsdrang der Wirtschaft denke. Weltweit, vor allem auch in Deutschland, mangelt es nicht an Mut, nicht an Innovationswille, nicht an Perspektive – sondern vor allem an einer klaren Vorstellung davon, was 4.0 werden sollte, und was 1.0 oder 2.0 bleiben darf. Es wird digitalisiert, an allen Ecken und Enden, um jeden Preis. Aber nicht alles, was smart gemacht wird, ist auch intelligent.

Als Gründer eines Bremer Software-Unternehmens, das sich auf die Digitalisierung des Kassenbons durch ein massentaugliches System spezialisiert hat, habe ich täglich mit der Tech-Branche zu tun. Meist begeistert mich das enorme kreative Potenzial und die Vielfalt an gut durchdachten Lösungen, die mir dabei begegnen. Immer öfter aber bin ich erschrocken darüber, was für Produkte in der Digitalisierungs-Hysterie auf dem Markt landen.

Die Firma Withings zum Beispiel hat lange an einer Bürste geforscht, die durch ein eingebautes Mikrofon den Gesundheitszustand der Haare feststellen und anhand weiterer Sensoren in einer App anzeigen sollte, ob Geschwindigkeit und Druck der Haarpflege schaden. Am Ende wurde das Projekt eingestellt. Auf den Markt geschafft haben es jedoch: Eine Diät-Gabel, die die Geschwindigkeit der Handbewegung beim Essen misst und darauf hinweist, langsamer (und dadurch weniger) zu essen. Bluetooth-Toaster, bei denen sich der Bräunungsgrad des Toasts per App definieren lässt. Smarte Flip-Flops, die Schritte zählen (und zu Werbezwecken Bewegungsdaten mit dem Hersteller teilen). In Kürze will British Condoms einen Penisring herausbringen, der die Sex-Aktivität misst und erfasst, wie viele Kalorien beim Akt verbrannt wurden. Und mit MyFlow ist der erste smarte Tampon durch die Medien gegangen, der mitteilen kann, wann mit dem nächsten Wechsel zu rechnen ist.

Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Überflüssige Digitalisierung sehen wir aber auch ganz konkret in unserem Alltag: Digitale Tickets, die Mitarbeiter an der Kasse in Papierkarten umtauschen, um am Eingang zum Kino oder Konzert abgerissen zu werden. Kühlschränke, ausgestattet mit Kameras, damit man von unterwegs den Inhalt checken kann. Und der Spielzeug-Markt scheint völlig außer Kontrolle zu geraten: Monopoly mit Audio-Steuerung, Smartphone-gelenkte Roboterhunde; Teddys, über die Kinder ihren Eltern Sprachnachrichten schicken können. Stiftung Warentest warnte erst vor Kurzem vor diesen vernetzten Spielkameraden – auch, weil sie nicht ausreichend gegen Hacker geschützt sind und im schlimmsten Fall Fremden ermöglichen, über die unsichere Verbindung Kontakt zu den Kindern aufzunehmen.

Muss es solche Gadgets geben? Vielleicht braucht es sie, um zu wahrer Innovation zu gelangen, als Impulsgeber für neue, bessere Ideen. Bei den meisten Produkten allerdings erwische ich mich immer wieder bei dem Gedanken: Was für ein überflüssiger Schrott.

Das Problem: Die Digitalisierung ist überpräsent

Die Digitalisierung ist – dieser Eindruck verschärft sich in den vergangenen Jahren massiv – außer Kontrolle geraten. Das liegt unter anderem daran, dass der Begriff durch seine häufige Verwendung immer mehr Masse und gleichzeitig immer weniger Substanz hat. Es ist noch immer schwierig, festzulegen, wann die Digitalisierung angefangen hat. Heute stehen Wirtschaft und Verbraucher vor der Herausforderung zu entscheiden, wo sie endet, wo die Grenzen liegen.

Mein Appell lautet deshalb: Hört auf, alles um jeden Preis zu digitalisieren! Stattdessen sollte die Frage wieder im Mittelpunkt stehen, wie (und wem) Digitalisierung einen Mehrwert bringt. Technologie sollte den Alltag erleichtern, der Gesellschaft dienen, Fortschritt gewährleisten, Sinn ergeben. Es gibt dafür sehr gute Beispiele in den Bereichen Medizin und Forschung, Mobilität, Sicherheit. Auch Apps, die Aufgaben des Alltags übernehmen oder dessen Organisation vereinfachen, gehören dazu.

Es braucht einen neuen Maßstab für die Digitalisierung. Er muss genau dort ansetzen, wo Fehler passieren, wo Zeit verloren geht, wo die Umwelt belastet wird. Kurzum: Wo es Optimierungspotenziale gibt, Gutes zu ergänzen und Schlechtes zu bekämpfen.

Die Lösung: Digitalisierung mit Maß

Das ist auch meine Empfehlung für Unternehmen. Ich selbst kann gar nicht mehr zählen, auf wie vielen Kongressen, Seminaren und anderen Events ich war, die sich um das Thema Digitalisierung drehten. Auf der Bühne die Pioniere, die von virtuellen Fabriken und „smart companies“ predigen und im Einzelfall wirklich auch inspirierende Vorreiter einer digitalen Zukunft sind. Aber im Publikum Hunderte von Unternehmern – Startup und Mittelstand – mit anderen Handlungsfeldern, anderen Strukturen, anderen Bedürfnissen, die ratlos in ihre Büros zurückkehren, diesen Druck im Nacken, digitalisieren zu müssen, ohne zu wissen, wo sie anfangen sollten.

Gibt es dafür eine allgemeingültige Formel? Nein.

Inspiration ist gut. Wichtiger jedoch ist es, genau zu prüfen, was das eigene Unternehmen wirklich benötigt. Immer wieder tauchen Studien auf, die zu belegen versuchen, dass der deutsche Mittelstand in der Digitalisierung zurückliegt. Aber es stellt sich doch die Frage: Bis zu welchem Grad muss ein Unternehmen digital werden? Hier gilt es, die richtigen Prioritäten zu setzen, ohne die Zukunft außer Acht zu lassen.

Ein aufmerksames Interesse an der Umsetzung der Digitalisierung auf dem Markt; ein wacher Blick für den technologischen Fortschritt; und ein Bewusstsein für die Werte, die strategische Ausrichtung und die Belastbarkeit des eigenen Unternehmens, sind die Parameter für die Entscheidung zur Digitalisierung und der Tiefe der zu ergreifenden Maßnahmen – und sorgen für eine gesunde Dosis der Veränderung. Denn das brauchen wir jetzt: Eine individuelle Bewertung technologischer Möglichkeiten vor dem Hintergrund des eigenen Handlungsfeldes, unbeeinflusst von den Marktschreiern der Digitalisierungs-Euphorie. Gegen die Orientierungslosigkeit auf dem Weg in die digitale Zukunft.

Über den Autor:

Amir Karimi hat 2017 gemeinsam mit Dr. Gerd Köster das Bremer Software-Unternehmen A&G GmbH gegründet, um ein Produkt zu bauen, das ein sicheres Fundament für eine digitale Zukunft im Handel legt und die Welt nachhaltig besser macht. Entstanden ist admin, eine App für digitale Kassenbons, die papierloses digitales Quittieren ermöglicht – und damit nicht nur die Ressourcen der Umwelt schont, sondern auch den Alltag erleichtert.

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