Liebe Mobile-Professionals,
von mobilen Unternehmensanwendungen wollte in der breiten Fachöffentlichkeit lange niemand etwas wissen. Als wir dem Thema auf der Konferenz MCTA 2005 erstmals eine eigene Session widmeten und neben dem obersten Mobile-Repräsentanten der SAP noch einige andere spannende Leute mit praktischer Erfahrung und erfolgreichen Projekten auf die Bühne stellten, war der große Saal leer und die Reihen der konkurrierenden B2C-Session im kleinen Nachbarraum voll.
Das änderte sich erst mit dem iPhone. Jeder wollte dieses Gerät haben und plötzlich waren auch Unternehmensanwendungen recht, wenn man die Anschaffung damit begründen konnte (beliebt auch die umgekehrte Variante: „Der Chef hat ein iPhone und sagt, wir müssen dafür was machen!“). Ein hübsches Beispiel ist dabei die Überwachung des ruhenden Verkehrs, die in manchen Kommunen mit Hilfe dienstlich beschaffter iPhones erfolgt. (Übrigens: „Politesse“ heißt im Französischen „Höflichkeit“, das nur als Trost für Ihr nächstes 25-EUR-Parkticket.) Ich wette auch, das kann man so lange schönrechnen, bis durch die iPhones eine Ersparnis gegenüber anderen Ausstattungsvarianten nachgewiesen wird…
Wirklich sparen kann man natürlich, wenn man die Geräte gar nicht mehr anschaffen muss, sondern der Mitarbeiter sein eigenes Smartphone dienstlich einsetzt. Vor fünf Jahren haben wir mit Kollegen des Tokyo Institute of Technology die Unterschiede zwischen Mobile-Enterprise-Lösungen in Europa und Asien anhand einer Reihe von Cases untersucht. Eine wesentliche Überraschung dieser Studie war, dass die Ausgangspunkte solcher Lösungen zutiefst verschiedene waren: In Europa waren in der Regel die Geschäftsprozess- oder die IT-Verantwortlichen die Treiber, der Prozess wurde angeschaut (wenn auch leider häufig noch nicht nach den Grundsätzen des Mobile Business Process Reengineering) und dann die Mitarbeiter mit mobilen Geräten und entsprechender Software ausgestattet (Top-Down). In Japan dagegen, wo der B2C Mobile Commerce deutlich weiter war als bei uns, waren die Treiber meist die einzelnen Mitarbeiter (Bottom-Up): „Das würde ich zuhause mit dem Smartphone machen. Wieso soll das in der Firma nicht gehen?“ Gib mir eine App, ich nehme mein eigenes Telefon! Oops, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen in einem Boot? Perfekt!
Inzwischen ist auch bei uns die zweite Variante sehr verbreitet und das Stichwort Business Apps in aller Munde. Unter Umständen kommt es den Arbeitgeber sogar dann immer noch billiger, wenn er zum neuen Smartphone einen ordentlichen Betrag dazu gibt oder das Gerät steuerwirksam vom Arbeitnehmer mietet. Es gibt zahlreiche Nebenwirkungen, die dabei diskutiert werden (z.B. das Cross-Platform-Problem, IT-Sicherheit, Verfügbarkeit von Firmendaten und vieles mehr) und gelöst werden müssen, aber häufig sieht die Variante Bring-Your-Own-Device am Ende immer noch sehr attraktiv aus.
Nach der MCTA 2005 haben wir aus Verärgerung und Sturheit zu dem Thema übrigens einige Monate später mit Management Circle eine Fachkonferenz „Mobile Business Processes“ auf die Beine gestellt und alle einschlägigen Verrückten in Köln versammelt – da war es dann zwar voll, aber man blieb „unter sich“ und jeder der Zuhörer hätte ebenfalls einen guten Vortrag halten können. Das ist insofern bemerkenswert, als in dieser Pionierzeit einerseits die vorgefertigten Lösungen nicht wirklich brauchbar waren (SAP Mobile Business mit einer browserbasierten Lösung und der Wartungstechniker des Energiekonzerns in der Pampa mit GPRS steigerten die Arbeitszufriedenheit eher weniger), andererseits aber First Mover wie der damalige CIO von Heidelberger Druck dann 4000 Außendienstler mit einer selbstgestrickten Lösung und internationalem Rollout ausstatteten, die nicht nur Spaß machte, sondern auch nach 1,3 Jahren (!) die Kosten wieder eingespielt hatte (u.a. weil dieser CIO jeden Blockierer im Unternehmen persönlich anrief und anzählte…). RWE machte ähnliche Erfahrungen und hatte seine Kosten sehr schnell wieder eingespielt.
Alle diese frühen erfolgreichen Lösungen hatten eine Gemeinsamkeit, für die ich zwei Jahre zuvor mit Christian Winnewisser von McKinsey geworben hatte: Die Lehren aus der bahnbrechenden MIT-Studie „Management in 1990s“ (die nachwies, dass massive IT-Investitionen der US-Wirtschaft keine wesentlichen Produktivitätsfortschritte gebracht hatten und dass das Potential der IT ohne neuartig gestaltete Prozesse nicht ausgeschöpft werden konnte) und dem darauf folgenden Ansatz des Business Process Reengineering können eins zu eins auf den Einsatz mobiler Technologien im Unternehmen übertragen werden. Unser Plädoyer hieß dementsprechend „Mobile Technologie braucht neue Geschäftsprozesse“. Der empirische Befund belegte schnell: Heidelberger Druck, RWE und alle anderen der bereits mit „Steinzeit-Technologie“ (z.B. Windows CE) erfolgreichen Unternehmen waren konsequent so vorgegangen. Sie hatten ihre mobilen Geschäftsprozesse neu gestaltet und so ausgerichtet, dass sie die Vorteile der Technologie wirklich ausnutzen konnten.
Das Problem: Nicht viele Unternehmen sehen die Einführung mobiler IT (und nichts anderes ist ein Smartphone) primär als organisatorische Frage und ordnen dem die technischen Fragen unter. Wenn Enterprise-Anwendungen aber im Zeitalter von BYOD immer mehr „appifiziert“ werden, stehen meist nur noch Einzellösungen für Einzelprobleme im Fokus und der Blick auf den Geschäftsprozess geht verloren. Wenn das passiert, bringen mobile Lösungen keinen strategischen Vorteil mehr, sondern nur noch taktische. Und wehe Ihnen, ein innovativer Wettbewerber macht es anders.
(Wenn Sie geschichtsinteressiert sind, finden Sie übrigens ein spannendes Äquivalent im Einsatz von Panzern zu Beginn des Zweiten Weltkrieges: Hätte die französische Armee ihre überlegene Panzerstreitmacht so eingesetzt, wie es ein unbekannter Stabsoffizier namens Charles de Gaulle bereits 1934 in einem Buch gefordert hatte, wäre der deutsche Vormarsch im Mai 1940 zu Ende gewesen. Stattdessen war es umgekehrt, der Schwächere gewann haushoch – das deutsche Heer in den Jahren 1936-38 ist ein klassisches Beispiel für Business Process Reengineering und den Umgang mit neuen Technologien.)
Mir persönlich ist es prinzipiell egal, ob Ihr Mitarbeiter sein Telefon mitbringt oder ob er eines dienstlich geliefert bekommt. Aber mein Plädoyer lautet nach 10 Jahren immer noch unverändert: Mobile Enterprise ist zu ernst, um es der IT-Abteilung zu überlassen. Denken Sie Ihre Geschäftsprozesse neu! Erst ein konsequentes Mobile Business Process Reengineering (M-BPR) realisiert das volle Potential mobiler Technologie im Unternehmen. Und analog zum klassischen BPR werden Sie feststellen, dass mobil-integrierte Geschäftsprozesse eines der scheinbaren Grundgesetze der BWL aufheben – im magischen Dreieck Kosten – Zeit – Qualität erzielen Sie Verbesserungen an allen drei Ecken.
Übrigens gilt das in noch weit höherem Maße für M2M-Lösungen. Und auch darüber haben Forscher schon vor fast 10 Jahren geschrieben. Aber das ist eine andere Geschichte.
Bleiben Sie mobil!
Ihr
Über den Autor:
Key Pousttchi ist einer der international führenden Mobile-Business-Experten. Er baute ab 2001 die Forschungsgruppe wi-mobile an der Universität Augsburg auf und ist bislang der einzige deutschsprachige Wirtschaftsinformatiker, der zum Mobile Business promoviert (2004 zu M-Payment) und habilitiert (2009 zum Einsatz von Mobile Business in Unternehmen und Angeboten für Endkunden) wurde. Vortragstätigkeit und Projekte führten ihn nach Nordamerika, Asien und Afrika, seine Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet. Er ist Inhaber der wi-mobile Dr. Pousttchi GmbH, in der Praxis als Strategieberater, Keynote-Speaker und Aufsichtsrat tätig sowie gefragter Gesprächspartner der Medien, von Deutschlandfunk und ZDF bis zur „New York Times“. 2013 holte er die International Conference on Mobile Business im zwölften Jahr ihres Bestehens erstmals nach Deutschland.
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