Interview: Thomas Seymat von Euronews über „immersiven Journalismus“ mit 360°-Videos.

Besseres Storytelling mit moderner Technik: Thomas Seymat vom Fernsehsender Euronews ist einer der führenden Köpfe in Europa, wenn es um den Einsatz von 360°-Videos im Journalismus geht. Auf der Local Web Conference 2017 am 5. Juli 2017 in Nürnberg wird er über seine Erfahrungen auf diesem Gebiet berichten und schildern, was man unter „immersiven Journalismus“ versteht. Wir haben mit ihm im Vorfeld der Veranstaltung ein Interview geführt.

mobilbranche.de: Auf der Local Web Conference sprechen Sie über „immersiven Journalismus“. Was meinen Sie damit im Vergleich zu herkömmlichem Journalismus?

Thomas Seymat: Mit dem Begriff „immersiver Journalismus“ können wir die sinnlose Diskussion über „360°-Videos sind keine Virtual Reality“ beenden. Im Vergleich zu herkömmlichem Journalismus meine ich mit immersivem Journalismus (darunter fallen z.B. 360°-Videos, CGI oder fortschrittliche Audio-Technologien) etwas, wo der Reporter das Publikum direkt in die Szenerie bringt, über die er berichten will. Im Vergleich zum klassischen Videojournalismus hat das Publikum eine viel größere Freiheit, sich im sphärischen Video umzusehen, und Sie können als Journalist viel mehr zeigen. Das ultimative Ziel dieses Eintauchens ist es, ein Gefühl der Präsenz vor Ort zu schaffen.

mobilbranche.de: Sie haben über 100 News-Videos in 360° veröffentlicht. Wie entscheiden Sie, welche Themen in 360° Videos abgedeckt werden sollen?

Thomas Seymat: Wir haben für ein paar Monate experimentiert und haben einfach angefangen loszudrehen. Später haben wir dann stärker ausgewählt, was wir drehen. Wir haben Formate und einige Auswahlkriterien festgelegt. Sie beinhalten den Nachrichtenwert (ob es sich um ein Ereignis handelt, das wichtig und/oder spektakulär ist), ob der Dreh innovativ ist, ob es überhaupt funktionieren kann (in Bezug auf Budget, Aufnahmen etc.), ob es funktioniert (in 360°) und wie groß das potenzielle Publikum ist (vor allem für unser internationales Publikum).

mobilbranche.de: Was sollte man beachten bei der Aufnahme in 360 ° im Vergleich zu herkömmlichen Videos?

Thomas Seymat: Die Sprache des Videojournalismus, die sich jahrelang entwickelt hat und sich noch immer weiterentwickelt, muss bei 360°-Videos weitestgehend wieder in Einzelteile zerlegt und neu gedacht werden. Du denkst nicht an einen einzelnen Kameraschuss, sondern eher in Szenen. So musst du wieder lernen, wie man eine Geschichte erzählt – und lernen, als Videojournalist eine Art kleine Macht wieder aufzugeben, die man mit einer traditionellen Kamera hatte. Du kannst bei der Aufnahme nicht mehr zoomen, schwenken, etc., aber Du hast doch immer noch die Kontrolle über den Kamerawinkel, wann Du die Aufnahme startest usw. Der Schnitt ist auch anders – die Szenen müssen länger sein, um den Betrachter nicht zu desorientieren.

Wer sich für mehr Details interessiert: Wir haben eine 360°-Checkliste ins Netz gestellt. Sie wurde entworfen, um einen großen Teil unserer Erfahrung zusammenzufassen, wie wir im immersiven Journalismus drehen.

mobilbranche.de: Was sind die wichtigsten Lektionen, die Sie aus den 360°-Videos gelernt haben?

Thomas Seymat: Auf der individuellen Ebene schadet ein wenig Demut nicht. Und auch wenn es ein Klischee ist, so etwas zu sagen: für den immersiven Journalismus gibt’s noch keine Regeln. Eine offene Denke und die Bereitschaft zu experimentieren (und dabei auch mal zu scheitern) sind für mich die Schlüssel zum Erfolg. Zudem sollte man wissen, dass es im Moment keine einzige perfekte 360°-Kamera auf dem Markt gibt, also musst du Kompromisse eingehen können. Tipps für die Auswahlkriterien einer passenden Kamera für den immersiven Journalismus gebe ich in diesem Blogpost.

Auf der organisatorischen Ebene haben wir mit einem dreistufigen Ansatz Fortschritte gemacht. Ähnlich könnten das auch andere Redaktionen handhaben, die in den immersiven Journalismus einsteigen wollen.

  • Schritt 1: lernen, wie man ein technisch sauberes 360°-Video produziert und veröffentlicht.
  • Schritt 2: Machen Sie dieses Video journalistisch (die Grundlagen von wer, was, wo, wann, warum?).
  • Schritt 3: Entwickeln und verbessern Sie die Erzählqualität der Videos.

mobilbranche.de: Wo sehen Sie die Zukunft des Journalismus? Wird künftig alles in 360° oder VR berichtet?

Thomas Seymat: Radio hat die Zeitung nicht getötet, TV hat kein Radio getötet usw. Daher sehe ich keinen Grund zu glauben, dass der immersive Journalismus die anderen Medien töten wird. Ich denke, dass er hier ist, um zu bleiben, und wenn man so aussieht, was für Summen einige Internetgiganten und Elektronikhersteller gerade investieren, können wir voraussehen, dass wir mehr Virtual Reality, Augmented Reality, etc. sehen werden in den nächsten Jahren. Wie sich der Journalismus anpasst und entwickelt, liegt in unserer Branche, aber es gibt sehr ermutigende Zeichen, wie die Journalism360-Initiative, die sowohl für Anfänger als auch für fortgeschrittenere immersive Journalisten Ressourcen zur Verfügung stellt.

Darüber hinaus ist ein frühzeitiges Engagement der Medien in diesem Bereich hilfreich, um die Zukunft mitzugestalten, wie Paul Cheung (früher bei AP, jetzt bei NBC News) in dem aktuellen Report „VR for News: the new reality“ von BBC-Journalistin Zillah Watson sagt. Erlauben Sie mir, ihn direkt zu zitieren:

„Dies ist eine Gelegenheit für die Nachrichtenbranche, um aktuell und vorne dabei zu bleiben. Wir können bei der Ausgestaltung von VR und 360° mitspielen, was unerlässlich ist, denn in so einem frühen Stadium können wir nicht nur darüber nachdenken, wie man damit Geschichten erzählt, sondern auch darüber, wie das Geschäftsmodell aussehen wird.“

mobilbranche.de: Vielen Dank für das Gespräch!

Wollen Sie mehr über immersiven Journalismus, 360°-Grad Videos und Virtual Reality erfahren? Dann nehmen Sie an der Local Web Conference am 5. Juli 2017 in Nürnberg teil, die erstmals im Rahmen der Lokalrundfunktage stattfindet.

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