Der Nutzer, das unbekannte Wesen?

Key-PousttchiLiebe Mobile-Professionals,

wenn Sie vor zehn Jahren jemandem erzählten, Sie seien Mobile-Business-Forscher, gab es zwei typische Reaktionen, die etwa gleich häufig eintraten: Die einen betrachteten den mobilen Kanal als (zumindest für ihr Business oder ihr Leben) irrelevant, weil es ihnen egal sei, wie die Menschen telefonierten und mobile Dienste eine nette, aber bedeutungslose Spielerei seien. Die anderen sahen mobile Geräte durchaus als die Zukunft, erklärten aber, deren Gebrauch weise nur wenige Besonderheiten auf, die zudem mit der Konvergenz der Kanäle verschwinden würden (unglaublich, aber wahr: auch bei den meisten MNO damals die vorherrschende Ansicht, ich sage nur Web’n’walk).

Inzwischen hat sich nicht nur unter Mobile-Profis wie Ihnen und mir herumgesprochen, dass es ein ausgeprägtes mobiles Paradigma gibt und dass dieses mit dem Wechsel der Standard-Geräte künftig zu großen Teilen das stationäre Paradigma ersetzen wird. Das mag nicht für alle Anwendungsfälle eine gute Idee sein – aber es ist Fakt. Google hat das als erster großer Player der stationären Welt erkannt und verfolgt inzwischen seit mehr als vier Jahren intern eine „Mobile First“-Strategie, die anderen Dienste sind zweitrangig und werden nur noch nachgezogen.

Eines der wichtigsten differenzierenden Merkmale des mobilen Paradigmas ist das Nutzerverhalten. Jeden Tag können wir in der U-Bahn oder im Meeting (oder, wenn wir ehrlich sind, nicht selten an uns selbst) beobachten, wie lieb der Nutzer sein funkendes Tamagotchi hat, das alle paar Minuten unbedingt seiner Aufmerksamkeit bedarf.

Kommunikation ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Er ist ein soziales Wesen. Oft strebt er dabei nicht die optimale Menge, sondern deutlich mehr an – der eine eher als Sender, der andere eher als Empfänger. Der moderne Mensch ist auch schnell von seiner Umwelt gelangweilt und will unterhalten werden. Auch dabei hilft ihm das Gerät. Außerdem ist er in der heutigen Zeit vor allem eines: ungeduldig – und schon deshalb „always on“. Wenn Sie vom Flughafen Heathrow mit dem Zug nach Oxford zur Universität fahren, müssen Sie an einer Station umsteigen, die immer noch exakt gleich aussieht wie vor 20 Jahren. Gäbe es ein Foto, würde man nur einen einzigen Unterschied sehen: die Köpfe der Wartenden. Früher haben die Menschen in der Gegend herumgeschaut, sind auf und ab gelaufen oder haben sich miteinander unterhalten – heute schauen alle nach unten auf ihr Tamagotchi. Das Mobiltelefon konnte das Verhalten des Menschen deutlich verändern, weil es eine Reihe von Instinkten bedient und je „smarter“ es wird, umso stärker wird dieser Effekt.

Wenn Sie mobile Dienste entwickeln, kommen Sie an diesen Instinkten nicht vorbei, denn sie bestimmen das Nutzungsverhalten weitaus stärker als etwa die vielfach unterstellte rationale Wahl. Wir haben das vor einiger Zeit in einer theoriebildenden Studie wissenschaftlich nachgewiesen. Ausgehend von existierenden Theorien, die Aussagen zur Nutzung von IT-Systemen durch Endkunden erlauben, insbesondere dem Technology Acceptance Model (TAM) von Davis und der Theory of Planned Behaviour (TPB) von Ajzen, haben wir ein theoretisches Modell für die Gründe der Nutzung mobiler Dienste und Anwendungen entwickelt und mit Daten von etwas über 3000 Nutzern der typischen Zielgruppe validiert (dem deutschen Anteil der Worldwide Mobile Data Services Survey). Mittels moderner statistischer Verfahren bei der Modellbildung – für die Experten: mittels formativer anstelle reflektiver Operationalisierung der Konstrukte – konnten wir dabei tiefere Einsichten in die Kausalzusammenhänge gewinnen als alle einschlägigen Studien zuvor.

Dabei haben wir an der richtigen Stelle gegraben, denn die Ergebnisse sind durchaus bemerkenswert – wenn auch für den ernsthaften Mobile-Forscher manchmal wenig angenehm. Kurz zusammengefasst: Der wichtigste handlungsauslösende Grund für die Nutzung mobiler Dienste ist mit weitem Abstand „kill time“ – dem Nutzer ist langweilig. Erst der zweite Grund ist Effektivitätsgewinn – der Nutzer kann nun Dinge tun, die er vorher nicht konnte. Etwa gleichauf damit rangiert die Pflege persönlicher Beziehungen – also das soziale Netzwerk (sowohl das virtuelle als auch das reale). Um Ihnen eine Vorstellung von dem Erdrutsch zwischen diesen Faktoren zu geben: Die Faktorladung für das item „kill time“ ist mehr als viermal so hoch wie für die beiden anderen items.

Eines ist unter den handlungsauslösenden Gründen nicht zu finden: Effizienzgewinn. Die Aussicht, mit einem mobilen Dienst Zeit oder Geld zu sparen nimmt der Nutzer gerne mit – handlungsauslösend ist sie in der Regel nicht. Soviel zur Theorie der rationalen Wahl im wirklichen Leben (und zur Frage, warum viele nützliche mobile Dienste vom Nutzer ignoriert wurden). Wir sind gespannt, ob sich das mit fortschreitender Integration der Smartphones in den Alltag und Verbreitung in andere Zielgruppen ändert, die Folgestudie ist bereits in Arbeit.

Ach so, eins habe ich noch vergessen: Während wir von der Wucht des items „kill time“ damals zum Teil überrascht waren, hatten wir die Auswirkungen von Spaß bei der Dienstnutzung (perceived entertainment) durchaus als explizites Erkenntnisziel und eigenes Konstrukt auf der Liste. Und wir haben sehr tief hineingeschaut: Auf den ersten Blick ist hier nämlich kein Zusammenhang zur Nutzungsabsicht zu erkennen, der entsprechende ß-Korrelationskoeffizient ist nahe Null und der Zusammenhang nicht signifikant. Schaut man aber auch die indirekten Zusammenhänge an, stößt man auf einen zweiten Erdrutsch: Der Einfluss dieses Konstruktes auf die wahrgenommene Nützlichkeit eines Dienstes ist hoch signifikant und höher, als ich es je in einem Modell mit echten Daten gesehen habe (für Statistik-Liebhaber: ß=0,704!) – und wirkt von da sehr wohl auf die Nutzungsabsicht. Mit anderen Worten: Ein Dienst wird nicht allein genutzt, weil er vergnüglich ist (Spiele und ähnliches haben wir nicht untersucht). Aber ein mobiler Dienst, der keinen Spaß macht, ist aus Nutzersicht grundsätzlich nicht besonders nützlich. Spaß bei der Dienstnutzung ist für den mobilen Kanal eine Grundanforderung geworden.

Wir stellen fest: So unbekannt ist das Wesen „mobiler Nutzer“ also gar nicht. Sie und ich haben es immer geahnt, dieses Wesen ist in Wirklichkeit ziemlich ausrechenbar und nicht selten spielt Dekadenz eine Rolle: Das Volk will unterhalten werden.

Bevor Sie mir jetzt böse Mails schreiben, hier der Disclaimer: Machen Sie bitte nicht den Forscher für die Tatsachen verantwortlich, die er ans Tageslicht bringt. Konrad Adenauer war ein weiser Mann, hatte zeitlebens kein Handy und sagte (vermutlich über mobile Nutzer) den unsterblichen Satz: „Man soll sich keine anderen Menschen wünschen, et jibt nur die.“

Und zum Trost für die ernsthaften unter uns, die diese Entwicklung – und wo sie gesellschaftlich hinführt – gar nicht so witzig finden: Wer ein paar dieser Dinge über den Nutzer weiß und illusionslos anwendet, kann auch die nützlichste Anwendung etwas massentauglicher machen. Ich drücke Ihnen dabei die Daumen!

Eine durchaus spannende Rolle bei der Nutzungsabsicht spielt übrigens auch die subjektive Norm, also die Kombination aus wahrgenommenem Verhalten der anderen und aus Empfehlungen, zum Beispiel von Freunden, Experten oder Medien. Die wirken sich übrigens nicht immer positiv aus – und diese Auswirkungen können je nach Geschlecht auch ziemlich verschieden sein. Aber das ist eine andere Geschichte.

Bleiben Sie mobil!

Unterschrift Key Pousttchi

Ihr Key Pousttchi

Über den Autor:

Key Pousttchi ist einer der international führenden Mobile-Business-Experten. Er baute ab 2001 die Forschungsgruppe wi-mobile an der Universität Augsburg auf und ist bislang der einzige deutschsprachige Wirtschaftsinformatiker, der zum Mobile Business promoviert (2004 zu M-Payment) und habilitiert (2009 zum Einsatz von Mobile Business in Unternehmen und Angeboten für Endkunden) wurde. Vortragstätigkeit und Projekte führten ihn nach Nordamerika, Asien und Afrika, seine Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet. Er ist Inhaber der wi-mobile Dr. Pousttchi GmbH, in der Praxis als Strategieberater, Keynote-Speaker und Aufsichtsrat tätig sowie gefragter Gesprächspartner der Medien, von Deutschlandfunk und ZDF bis zur „New York Times“. 2013 holte er die International Conference on Mobile Business im zwölften Jahr ihres Bestehens erstmals nach Deutschland.

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