MVNO – eine kleine Geschichte vom billigen Jakob.

Key-PousttchiLiebe Mobile-Professionals,

erinnern Sie sich noch an den Launch von Tchibo Mobil? Das ist tatsächlich schon neun Jahre her: 2004 versuchte zum ersten Mal ein Nicht-Telekommunikationsunternehmen in Deutschland, seinen Endkunden Mobilfunkleistung zu verkaufen. Nanu, ein Mobilfunkanbieter ohne Mobilfunknetz?

Für ein solches Unternehmen hat die Sache hat zwei Dimensionen: Zunächst wird hier ein vorhandenes Distributionsnetz und damit ein Zugang zu einer interessanten Zielgruppe genutzt. Damals – als es noch Erstkunden außerhalb von Kindergarten oder Grundschule zu gewinnen gab – fanden eine Menge technikaverser Kaffeekäufer die Idee charmant und wollten „tchibofonieren“. Dass sie in Wirklichkeit simple O2-Kunden wurden, war den meisten vermutlich erst klar, als sie näher auf ihr Display schauten (und ein paar hundert Meter weiter, an der Stadtgrenze, war dort plötzlich „T-Mobile“ zu lesen und der Empfang war besser…).

Das günstige Handy mit allem, was man dazu braucht, passte durchaus gut in das Aktions- und Spontankaufsortiment, das in den Tchibo-Filialen seit 30 Jahren immer mehr ausgebaut worden war (Sie wissen schon, „Tchibo“ = „chilling“+“Bohne“) und längst mehr Freunde machte als das Kaffeegeschäft, das den Kunden aber immerhin regelmäßig in der Filiale ablieferte. So kam also erstmals das Handy zum Kunden und nicht mehr umgekehrt. Kein schlechtes Geschäft für MNO und Kaffeeröster, zumal der Minutenpreis nicht wirklich an der unteren Grenze angesiedelt war (35 ct). Tchibo freute sich nicht nur über die Gewinnmarge, sondern probierte auch sogleich erfolglos die zweite Dimension aus, aber lassen Sie mir dafür noch einen Augenblick Zeit.

Wenige Monate später kam ein Unternehmen auf den Markt, das andersartig war: Rolf Hansen gründete mit drei Partnern Simyo für E-Plus und rockte den Mobilfunkmarkt. Der Song hieß no frills (kein Schnickschnack), nach skandinavischem Vorbild. Oder für die Kunden: „Weil einfach einfach einfach ist.“ Soll heißen: SIM-Karte zum Einheitstarif auf der Webseite bestellen und ansonsten keine Leistungen und keine Kosten erwarten.

In diese Richtung ging dann ab Herbst 2005 auch der komplette Umbau von E-Plus, der die „von allem ein bisschen“-Strategie in Düsseldorf beendete. Beginnend mit einem Kehraus des mittleren Managements wurde E-Plus wie viele andere Marktdritte in Europa knallhart auf Preisführerschaft getrimmt (die BWL-er unter uns erinnern sich, es gibt nicht so viele Porter-Strategien und wer Erfolg haben will, sollte sich nicht zwischen die Stühle setzen).

Der folgende langjährige Preiskrieg war ein Stück aus dem Lehrbuch der Marktwirtschaft. Für die anderen MNO fühlte er sich zermürbend an, dem Angreifer E-Plus bescherte er zuvor ungekannte Kundenzuwächse und Gewinne. Wesentliches Instrument der Strategie war es, den Markt zu segmentieren und eine Vielzahl dieser virtuellen Mobilfunkanbieter, die häufig nichts außer einer Webseite und 5-20 Mitarbeitern hatten, auf die Kunden zu hetzen.

Ein MVNO kann dabei vielgestaltig sein, von der MNO-Eigenmarke (z.B. BASE), die quasi nur einen anderen Aufkleber trägt, über die Masse der Branded Reseller (außer Tchibo etwa Ay Yildiz, RTL oder der Naturschutzbund NaBu) bis zu Unternehmen, die eigene TK-Infrastruktur aufbauen (eine Übersicht über die Standardtypen erhalten Sie hier). Der MVNO-Markt hat sich inzwischen deutlich ausdifferenziert und konsolidiert seit etwa zwei Jahren, von über 160 Mobilfunkmarken auf derzeit 118 (eine aktuelle Liste finden Sie hier).

Übrigens, die First Mover Tchibo Mobil und Simyo gibt es immer noch, beide nagen mit deutlich über 1 Mio. Kunden nicht am Hungertuch (im Gegensatz zu manchem Fast Follower, der sein Geschäft wieder einstellen musste). Sogar Congstar hat inzwischen ein paar Lektionen gelernt und jüngst 3 Mio. Kunden gemeldet (zum Vergleich: Aldi Talk wird auf 5 Mio. geschätzt, Fonic auf 2 Mio.) – den Weg dorthin und die Kannibalisierungsquote zur Mutter Deutsche Telekom wollen wir hier allerdings lieber nicht untersuchen.

Aber ich schulde Ihnen noch die zweite Dimension. Eigentlich könnten wir die weglassen, weil sie in der Praxis sowieso fast niemanden interessiert. Denn Tchibo hat sie damals gleich ausprobiert und anfangs allen Kunden regelmäßig Werbe-SMS geschickt – eine Gießkannenaktion, die diese überhaupt nicht witzig fanden (siehe Risiken und Nebenwirkungen des Mobile Marketing). Nachdem die platte Variante also nicht funktionierte, hat sich dann niemand mehr wirkliche Gedanken über den direkten und besonderen Zugang des MVNO zu seinem Kunden gemacht. Schade eigentlich, denn für Kundenbindung, Cross-Selling und Neukundengewinnung vieler klassischer Unternehmen, z.B. in Banken und Handel, eignet sich der mobile Kanal wie kein zweiter. Wenn man ihn wirklich beherrscht und sich um den Kunden kümmert.

Wenn Sie diesbezüglich etwas lernen wollen, schauen Sie doch mal bei BILDmobil vorbei. Die Herren von „BILD Dir Deine Meinung“ mögen nicht jedermanns Geschmack sein. Aber sie haben mit einer großen Zahl von Kunden (sie machen ein großes Geheimnis aus der Zahl) nicht nur Vodafone den Spaß an MVNO-Strategien beigebracht. Sie waren beim Start 2007 auch der erste MVNO, der besondere Konditionen aufrufen konnte: Der Kunde durfte auf dem BILD-Portal kostenlos surfen. Was das für die Kunde-Zeitungs-Beziehung bedeutet, kann kaum überschätzt werden. Und mit dem mobilen Medium, das ja hochgradig emotional funktioniert, können diese Jungs richtig gut umgehen.

Kann man die Vorteile voll ausspielen, wacht der Kunde morgens mit der Marke seines MVNO auf und geht abends mit ihr zu Bett. Wenn man dann noch in Betracht zieht, dass eine eigene SIM-Karte möglich ist und etwa die hardwareseitige Speicherung von Anwendungen (Apps) oder Verschlüsselung für sichere Kommunikation erlaubt, würde ich als Bank auf der Suche nach jungen Kunden ganz unruhig werden. Zum Thema „asymmetrischer Wettbewerb“ würde mir auch noch vieles mehr einfallen…

Aber keine Angst: Innovation ist bei uns in Deutschland nicht zu sehr zu befürchten. Also freuen wir uns für die Endkunden, dass der Minutenpreis von den oben erwähnten 35 ct inzwischen auf bis zu 5 ct gefallen ist – wenn MVNOs nur das bewirkt haben, ist das doch auch schon mal was.

Nicht ganz unspannend ist übrigens auch die Frage, wer in Zukunft alles MVNO wird – dann nämlich, wenn wir feststellen, dass 3-4 parallele Mobilfunknetze in einem Land ungefähr so sinnvoll sind wie 3–4 parallele Schienen-, Wasser- oder Stromnetze… Aber das ist eine andere Geschichte.

Bleiben Sie mobil!

Ihr

Unterschrift Key Pousttchi

Über den Autor:

Key Pousttchi ist einer der international führenden Mobile-Business-Experten. Er baute ab 2001 die Forschungsgruppe wi-mobile an der Universität Augsburg auf und ist bislang der einzige deutschsprachige Wirtschaftsinformatiker, der zum Mobile Business promoviert (2004 zu M-Payment) und habilitiert (2009 zum Einsatz von Mobile Business in Unternehmen und Angeboten für Endkunden) wurde. Vortragstätigkeit und Projekte führten ihn nach Nordamerika, Asien und Afrika, seine Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet. Er ist Inhaber der wi-mobile Dr. Pousttchi GmbH, in der Praxis als Strategieberater, Keynote-Speaker und Aufsichtsrat tätig sowie gefragter Gesprächspartner der Medien, von Deutschlandfunk und ZDF bis zur „New York Times“. 2013 holte er die International Conference on Mobile Business im zwölften Jahr ihres Bestehens erstmals nach Deutschland.

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